Zwischen Volkstheater und Avantgarde: Die Neuverhandlung klassischer Bühnenfiguren in den Dramoletten der Wiener Gruppe

von | 13.07.2013

In der aktuellen kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Formen subversiver Literatur rückt die Wiener Gruppe wieder verstärkt ins Blickfeld. Besonders die sogenannten „Dramoletten“ – kurze, oft radikal zugespitzte Theatertexte – werden zunehmend als Ausdruck einer literarischen Protestästhetik neu bewertet. Vor dem Hintergrund gegenwärtiger Debatten über Kanon, Populärkultur und Avantgarde gewinnen diese Texte nicht nur in der Literaturwissenschaft, sondern auch im Theater- und Kulturbetrieb neue Aufmerksamkeit. Die Wiederaufnahme klassischer Figuren wie Hanswurst, Kasper, Punch und Pierrot in diesen Texten verweist auf eine bewusste Reaktualisierung historischer Rollenbilder und Bühnenkonventionen – verbunden mit einer systematischen Brechung tradierter ästhetischer und gesellschaftlicher Erwartungen.

Das Buch Hanswurst, Kasper, Punch und Pierrot in den Dramoletten der Wiener Gruppe von Michael Gernot Sumper analysiert diese Thematik erstmals umfassend unter literaturwissenschaftlicher Perspektive. Die Untersuchung widmet sich der Frage, in welcher Weise die Wiener Gruppe – insbesondere H. C. Artmann, Konrad Bayer und Gerhard Rühm – historische Bühnenfiguren als Mittel der Sprach- und Gesellschaftskritik einsetzt. Im Zentrum steht die These, dass die Dramoletten nicht nur mit Form und Inhalt experimentieren, sondern dabei bewusst an volkstümliche Traditionen anschließen, um sie zugleich zu dekonstruieren.

Am Beispiel von Hanswurst zeigt Sumper auf, wie eine ursprünglich derb-komische Figur in den Dramoletten sexualisiert, verfremdet und in grotesken Sprachspielen aufgeladen wird – eine klare Provokation gegenüber bürgerlichen Theaterkonventionen. Kasper wiederum erscheint in einem Kontext repressiver Machtverhältnisse, etwa in militärischen oder polizeilichen Szenarien, und agiert dort als subversives Element, das nicht nur Sprache, sondern auch Autorität unterläuft. Auch Punch und Pierrot werden nicht im Sinne klassischer Typen eingesetzt, sondern radikal neu codiert: Während Punch aggressiv gegen sein Publikum wütet und gewohnte Erzählmuster zerstört, endet Pierrot – traditionell der melancholische Träumer – in einem Akt selbstgewählter Auslöschung.

Diese Beispiele verdeutlichen, wie die Wiener Gruppe eine Ästhetik der Überschreitung praktiziert: Die Dramoletten sind bewusst kurz, überzeichnet und sprachlich extrem verdichtet – und fordern damit nicht nur etablierte Theaterformen, sondern auch ihre Rezipient:innen heraus. Sie thematisieren Macht, Körper, Gewalt, Sexualität und Tod auf eine Weise, die traditionelle Moralvorstellungen und literarische Formen gleichermaßen unterläuft. Dabei bleibt die Verwendung historischer Figuren keineswegs nostalgisch, sondern fungiert als kritisches Instrument gegen konservative Kulturordnungen der Nachkriegszeit.

Das Buch liefert damit einen Beitrag zur literaturwissenschaftlichen Aufarbeitung eines zentralen Bereichs der österreichischen Avantgarde. Es bietet zugleich eine fundierte Grundlage für weiterführende Diskussionen über die Bedeutung klassischer Komikfiguren in modernistischen und postmodernen Kontexten.

Die Zielgruppe der Untersuchung umfasst neben Literatur- und Theaterwissenschaftler:innen auch Kulturschaffende, Lehrende sowie Studierende, die sich mit politischer Ästhetik, Formexperimenten und Theatergeschichte auseinandersetzen. Darüber hinaus richtet sich das Buch an Leser:innen, die sich für die Wechselwirkung von Volkskultur und künstlerischer Avantgarde interessieren – insbesondere im Hinblick auf das Verhältnis von Tradition, Subversion und literarischer Form.