Ziviler Ungehorsam im 21. Jahrhundert – Zwischen Rechtsstaatlichkeit und Protestkultur

von | 06.09.2024

Frankfurt am Main – In einer Zeit zunehmender gesellschaftlicher Polarisierung, wachsender globaler Krisen und sinkenden Vertrauens in politische Institutionen rückt das Spannungsfeld zwischen legitimen Protestformen und rechtsstaatlicher Ordnung verstärkt in den Fokus juristischer und gesellschaftlicher Debatten. Vor diesem Hintergrund veröffentlichte die Stiftung der Hessischen Rechtsanwaltschaft den 14. Band ihrer Schriftenreihe unter dem Titel „Ziviler Ungehorsam im 21. Jahrhundert – Wie weit bewegen sich Aktivist:innen noch im Rahmen der geltenden Gesetze?“. Die Veröffentlichung basiert auf dem studentischen Aufsatzwettbewerb der Stiftung aus dem Jahr 2023, dessen Preisverleihung im Mai 2024 in der Villa Bonn in Frankfurt am Main stattfand.

Als Juror fungierte Dr. Rainald Gerster, Präsident des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main, der die eingereichten Arbeiten für ihre juristische Präzision, argumentative Tiefe und gesellschaftliche Relevanz lobte. Der erste Preis ging an Fynn Wenglarczyk, gefolgt von Sebastian Tober (zweiter Preis), Gioia Großmann (dritter Preis) sowie Paul Dittrich & Georg Roeder und Deborah Zeh (jeweils vierter Preis). Die prämierten Beiträge reflektieren mit hoher fachlicher Qualität die Herausforderungen, vor denen das Strafrecht angesichts neuer Protestformen steht. Im Mittelpunkt stehen dabei klassische und neu diskutierte Rechtsnormen wie der rechtfertigende Notstand (§ 34 StGB), die strafbare Nötigung (§ 240 StGB), die Bildung krimineller Vereinigungen (§ 129 StGB) sowie zivilrechtliche Folgen wie Unterlassungsansprüche oder Schadensersatzforderungen.

Der Begriff des zivilen Ungehorsams beschreibt traditionell gewaltfreie, symbolische Gesetzesverstöße, die in öffentlicher Absicht aus Gewissensgründen begangen werden, um auf gesellschaftliche Missstände aufmerksam zu machen. Historische Vorbilder wie Mahatma Gandhi oder Martin Luther King prägten das Konzept ebenso wie die deutsche Anti-Atomkraft-Bewegung der 1980er Jahre. In jüngerer Zeit beziehen sich insbesondere Umwelt- und Klimabewegungen wie „Fridays for Future“ oder „Letzte Generation“ explizit auf diese Tradition. Ihre Aktionsformen – etwa Sitzblockaden, Straßenbesetzungen oder das Ankleben auf Fahrbahnen – werden öffentlich kontrovers diskutiert, juristisch unterschiedlich eingeordnet und politisch zunehmend instrumentalisiert.

Die Beiträge im Sammelband setzen sich differenziert mit der Frage auseinander, wie das Strafrecht auf solche Protestformen reagieren sollte, ohne zentrale rechtsstaatliche Prinzipien wie Verhältnismäßigkeit, Rechtsgleichheit und Meinungsfreiheit zu verletzen. Dabei wird insbesondere das Spannungsverhältnis zwischen dem moralischen Handlungsanspruch von Aktivist:innen und der staatlichen Pflicht zur Sicherung öffentlicher Ordnung thematisiert. Auch die politische Dimension spielt eine Rolle: Während Stimmen aus Politik und Justiz – insbesondere CDU/CSU-nahe Initiativen – eine härtere Gangart gegenüber Blockaden fordern, betonen andere Akteure die demokratische Bedeutung widerständiger Praxis in einer pluralistischen Gesellschaft.

Begleitend zur Veröffentlichung fand am 4. September 2024 in Brüssel das „Mittagsforum Justiz“ statt, bei dem unter anderem Staatssekretärin Tanja Eichner (Hessisches Justizministerium), Dr. Marc Hilgard (Vorsitzender der Stiftung der Hessischen Rechtsanwaltschaft) und Prof. Dr. Clemens Ladenburger (Direktor bei der Europäischen Kommission) diskutierten, wie weit Protest gehen darf, ohne die Fundamente des Rechtsstaats zu gefährden. Die Veranstaltung unterstrich, dass zivilgesellschaftlicher Protest nicht pauschal kriminalisiert werden dürfe, sondern in differenzierter juristischer wie gesellschaftlicher Auseinandersetzung verhandelt werden müsse.

Zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten der letzten Jahre – etwa von Jürgen Habermas, Rainer Forst oder Claudia W. Spröte – zeigen, dass ziviler Ungehorsam ein Prüfstein demokratischer Resilienz ist. Er fordert politische Systeme heraus, zwingt zur Reflexion ihrer Normen und kann in bestimmten Konstellationen Motor gesellschaftlichen Wandels sein. Zugleich sind klare Grenzen notwendig, um die Autorität des demokratischen Rechtsstaats nicht auszuhöhlen. In diesem Spannungsverhältnis bewegt sich die aktuelle Diskussion – zwischen Verteidigung rechtsstaatlicher Prinzipien und der Offenheit für moralisch motivierte Protestformen, die den politischen Diskurs beleben und gesellschaftliche Veränderung anstoßen wollen.

Der Band „Ziviler Ungehorsam im 21. Jahrhundert – Wie weit bewegen sich Aktivisten noch im Rahmen der geltenden Gesetze?“ ist im Sieversmedien Verlag erschienen und über Elitebuch erhältlich. Weitere Informationen zur Preisverleihung, zum Wettbewerb und zur Arbeit der Stiftung finden sich unter: https://ra-stiftung-hessen.org/studentischer-aufsatzwettbewerb.

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